Vorsprung - aber reicht's

  • Vorsprung - aber reicht's

Hundert Meter Sprints der Superstars dauern nach dem Startschuss bei den Damen in der Regel um die elf und bei den Herren um die zehn Sekunden. Das ist was sich auf der Bahn abspielt, wenn man das ganze Vorgeplänkel ausblendet. Das davor gehört dazu, um für Zuschauer noch besondere Spannung aufzubauen. Doch was wirklich zählt ist auf der Tartanbahn. Das Herausspringen aus den Startblöcken, wie rasch Höchsttempo erreicht wird und dieses hält. 
Geprägt vom jeweiligen Vorgeplänkel und mit Vorwissen über die Zeiten, die Personen so im Vorfeld ablieferten und den Eindrücken in den Vorläufen nahmen mich die beiden Läufe jedoch selbst mit auf eine ganz eigene Gefühlswelt. Usain Bolt erstmals in Olympia im Finale, am ehesten wohl herausgefordert von seinem eigenen Landsmann. Der Weltmeister war schon nicht mehr da, also war die Bühne eigentlich angerichtet. Doch hat er die Nerven?

Das Karussell beginnt sich zu drehen: - schlechter Start, gefolgt von der sofortigen Erinnerung, Bolt war nie der beste Starter. Aber doch schon fast zwei Schritte zurück nach zweieinhalb Sekunden, fuck das wird eng. Oh well, Powell warum nicht, hat's doch auch mal verdient. Wow, es wird richtig eng, die sind dann zu dritt, beinahe zu viert fast gleichauf. Reicht das etwa doch? Oder setzt sich tatsächlich überraschend, Thompson durch, der da knapp führt. Wo kommt das jetzt her? Nach fünf Sekunden - Bolt ist vorne - Bolt ist fast einen Schritt vorne. Was macht der denn? Kann er nicht mehr? Er kuckt sich um, schon nach sechs Sekunden. Man lauf doch! Schon vor der achten Sekunde beginnt der zu gestikulieren und jubeln. Das kann doch nicht wahr sein. Doch der zieht das durch, der wird ja kaum langsamer. Geschafft.
Was? Die Zeit? Das ist doch nicht möglich? Das kann nicht sein! Das wär nochmals Weltrekord - dabei hat der nicht mal durchgezogen. Okay, es gibt noch eine Korrektur an der Zeit, aber das ist immer noch Weltrekord. Und der hat nicht mal durchgezogen. Fast zwanzig Meter vor dem Ziel schon am jubeln. 
Das war eine eigene Liga. Fünfzehn Meter vor dem Ziel schon so jubeln. 
Ich habe gar nicht mehr wirklich auf die anderen geachtet. Da waren acht. Aber die Augen waren nur noch bei Bolt. 
Das Interview im Anschluss, bei dem er nur von Gold redet und er glücklich erklärt, dass ihm die Zeit egal war - ein Sahnehäubchen obendrauf. Wahnsinn - Wahnsinn - Wahnsinn. Selbst heute zieht's mich immer noch in den Bann. Und es bleibt für mich noch eine Zeit lang vermutlich der 100 Meter Lauf der Geschichte - mit der nie zu klärenden Frage: was wäre, wenn er durchgezogen hätte. 
Ich weiss es nicht! Das Besondere an diesem Lauf ist eben, genau dass es Bolt war, wie Bolt an jenem Abend war. Genau dieser Jubel vor dem Ziel und dann doch so überlegen zu gewinnen, gar mit Weltrekord: ein magischer Moment auf dem Gefühlskarusell.

Selten ist ein Rennen, das mit solchem Vorsprung gewonnen wird, etwas was mir so im Gedächtnis blieb. Und durch ähnliche Events, immer wieder vor Augen führt, wie verrückt das Ganze doch war. 
Eindrücklich vor Augen geführt an den Europameisterschaften 2022 in München; Asher-Smith, Kambundji, Lückenkemper, Neita als die Favoritinnen, die ungefähr ähnliches Niveau erreichen können. Aus den Resultaten direkt davor und mit etwas der Vorgeschichte, womöglich leichter Nachteil für Lückenkemper.
Das Karusell der Gefühle beginnt, mit einer positiven Überraschung durch einen für Kambundjis Verhältnisse starken Start von ihr. Nach eineinhalb Sekunden, Asher-Smith zwar vorne, aber Kambundji schon zweite und noch auf Tuchfühlung. Nach zweieinhalb mehr oder minder gleiche Höhe der beiden, vor allen anderen. Uff, fast vier Sekunden und die Britin auf Bahn eins, die Französin auf Bahn zwei und Asher-Smith auf drei dahinter Kambundji, der Rest eigentlich schon weg.
Was? Asher-Smith bricht weg? Und Kambundji hat jetzt nen Turbo? Wir sind erst bei vier Sekunden zwanzig und Kambundji hat sich sogar leicht nach vorn gesetzt, während Asher-Smith richtig zurück fällt und grad nur vierte ist. Vier siebzig, das sieht nach Kambundji aus - die ist weg. Doch dahinter schiebt sich jetzt alles zusammen. Sechs Sekunden unverändertes Bild, Kambundji zieht und zieht, dahinter alles recht eng. Sieben Sekunden vierzig, immer noch Kambundji mit Vorsprung, dahinter dünnt es sich aus. Jetzt ist Lückenkemper auf zwei und Neita und die Britin auf Bahn eins sehen so aus, als machen sie Bronze unter sich aus.
Acht Sekunden, Kampf um Silber ist noch nicht durch, Neita drückt noch mal auf Lückenkemper, die aber voll dagegenhält. Da ist ja richtig Druck. Nichts mit sicherem Gold und Bolt Jubel für Kambundji. Die muss voll durchziehen - immer noch fast einen Schritt vorn, aber Lückenkemper und Neita gehn und gehn. Neun Sekunden siebzig, das muss es doch jetzt gewesen sein, die strecken sich schon vor. Wahnsinn - bei zehn dreissig ist jetzt Lückenkempber irgendwie vor. Die hat so viel Speed, die macht das noch. Zehn siebzig - die sind zu dritt im Ziel. Aber? Zwischen Gold und Bronze war da wohl alles drin für Kambundji, Lückenkemper und Neita. Vom blossen Auge, keine Chance irgendwas zu erkennen. 
Ein Auf und Ab. Keine der drei hatte zurückgesteckt, sondern am Ende noch alles rein gehalten. Dabei sah's doch so klar aus. Ich dachte während des Rennens an Usain Bolt Jubel - auch zwanzig Meter vor dem Ziel, sah es noch einigermassen klar aus und dann wurde daraus Fotofinish. 
Krass. 
Und so bitter. In dem Moment hab ich's jeder der dreien gegönnt, denn es war ein unglaubliches Rennen. Der Sturmlauf von Kambundji - der hintenraus aber eng wurde, oder die unglaublichen Aufholjagden von Lückenkemper und Neita. 
Freude, Sorge, Enttäuschung gleichzeitig in den wenigen Augenblicken des Wartens auf das Resultat. Egal wer es geschafft hat: wow Klasse und ich freu mich - aber gleichzeitig das Mitfühlen mit den beiden, die so knapp an Gold und sogar Silber vorbei sind. Nach fünf Sekunden hätte ich nichts mehr auf Lückenkemper und Neita gewettet, und am Schluss könnte alles sein. 
Wie konnte Bolt damals so sicher sein, und es halten? Wie konnten Lückenkemper und Neita das Loch noch zu machen?
Vorsprung muss nicht reichen. Aber es kann so oder so noch zu einem unglaublichen Gefühlschaos führen und innerhalb weniger Sekunden Karussell mit einem fahren. Dafür liebe ich Sport.

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